Kapitel Eins


 

Die Heirat


Die Êzîden haben viele Regeln. Eine davon ist die Heiratsregel. Von allen anderen Regeln, die die Êzîden haben, ist die Heiratsregelung auch die strengste. Für einen Außenstehenden wird es sehr schwer sein, diese sehr strenge und komplizierte Regel zu verstehen. Das, was die Êzîden praktizieren, ist einzigartig auf der ganzen Welt. Deshalb machen manche Gläubige diesen Heiratsregel häufig irrtümlicherweise für die niedrige Zahl der Êzîden verantwortlich. Die Kritik stützt sich auf die Begründung, dass während alle anderen Religionen der Welt, vor allem die Moslems, es schon immer auf die Verehelichung mit Andersgläubigen abgesehen haben und absehen, um auf diese Weise die Zahl ihrer Religionsgenossen zu erhöhen, wobei unzählige Êzîdinnnen gewaltsam entführt und zum Islam gezwungen wurden, dürfen die Êzîden genau das nicht tun. Alle mit Gewalt entführten Êzîdinnnen sind für die Êzîden für immer verloren gegangen und das hat, zusammen mit den Getöteten, die Zahl der Êzîden drastisch nach unten gedrückt.

Die Êzîden dürfen nur unter einander heiraten. Eine Ehe mit einem Nicht-Êzîden bedeutet den automatischen Austritt aus der Gemeinschaft. Darüber hinaus, da die Êzîden in Kasten gruppiert sind, dürfen sie nur innerhalb ihrer Kaste heiraten. Ein Mirîd darf z.B. nur die Tochter eines Mirîds heiraten. Für die Mirîds ist es strengstens verboten jemanden aus den Priesterkasten, z.B. Şêx, Pîr oder Feqîr zuheiraten. Obwohl auch Mirîd Feqir werden können, dürfen sie in solchen Fällen nur jemand aus der ursprünglichen Kaste, also Mirîd, heiraten. Die Şêxs sind ebenfalls in Kasten geteilt und auch hier ist ihnen nicht erlaubt jemanden aus einer anderen Kaste zu heiraten. Das gleiche Gebot bzw. Verbot gilt auch für die Pîr`s.

Die Mädchen und Knaben dürfen ab 18. Lebensjahr verheiratet werden. Manche werden auch ab 16. Lebensjahr verheiratet. Ich habe auf den Êzîdenkongress (Februar 2000) in Hannover die Frage nach dem erlaubten Heiratsalter für die Êzîden an die dort anwesenden Priester gestellt. Darauf sagten sie, dass die Kinder erst ab 18. Lebensjahren verheiratet werden dürfen. Aber häufig entscheiden die Eltern, wann ihre Kinder heiratsfähig sind. In der Praxis entscheiden die Kinder selber, wann und wen sie heiraten wollen, dabei nehmen die Eltern häufig die Rolle einer Heiratsvermittlung ein. Sie schlagen vor, wer am besten in ihr Haus passt und bei den Mädchen, in welchem Haus sie am besten aufgehoben ist. Dann müssen die Kinder entscheiden, ob sie mit dem Vorschlag einverstanden sind oder nicht. Die Heirat mit dem Cousin oder Cousine ist bei den Êzîden erlaubt.

Es ist auch normal, wenn ein Paar, das sich liebt, die aber aus bestimmten Gründen nicht heiraten können, weil beispielsweise die Eltern dagegen sind, zusammen von zuhause abhauen. Das heißt, dass der Bräutigam seine zukünftige Frau entführt hat. Sie gehen zu Jemanden, den sie kennen, bis die Eltern (beiderseits) sich über das Next geeinigt haben, die Summe des Geldes, das die Eltern des Jungen an die Eltern der zukünftigen Schwiegertochter zahlen müssen. Derartige “Brautpreise”, “Next” genannt, können sehr hoch sein und diese Unsitte wird deshalb von den Jugendlichen offen und laut beklagt.

Dass das Problem mit dem Next nicht neu ist und es auch vor Hundertfünfzig Jahren aktuell war, hat auch der legendärer Archäologe und Reisender, Sir Austin Henry, Layard darüber in seinem Buch “Niniveh und Babylon“ geschrieben.

 Er schreibt (Schreibweise und Grammatik beibehalten):

 

»Hierauf wurden innere und häusliche Angelegenheiten der Secte besprochen und manche Reformen beantragt. Die Art, die Ehen abzuschliessen, machte einige Abänderungen nöthig. Die grossen Summen, welche von den Eltern für ihre Töchter verlangt wurden, hatten bewirkt, dass viele Mädchen unverehelicht blieben, eine Sache, die man sonst in östlichen Ländern selten findet, und worüber sich die jüngern Glieder der Gemeinde laut beklagten. Rassam stellte die Ansicht auf, dass der dem Vater zu zahlende Preis erniedrigt werden sollte, er würde sonst selbst zu Entweichungen auffordern und den Flüchtigen den Vortheil seines Schutzes gewähren. Diese Alternative erregte viele Heiterkeit; aber ein alter Scheikh von Baazani willigte sogleich ein, seine Tochter für 300 Piaster (ungefähr 2Pf. St. 10 Sch.) zu geben, anstatt für 3000, die er früher verlangt hatts. Dies führte auf der Stelle zu mehreren Verlobungen, unter grossem Gelächter und Beifall von Seiten solcher junger Kawals, die sich gern verheirathen wollten. Es war beinahe Mitternacht, als die Versammlung aufbrach. Wir begaben uns dann in den äusseren Hof, wo beim Schein der Fackeln bis spät gegen Morgen getanzt wurde, und wo alle jungen Männer und Frauen an der Debka Theil nahmen.«

    

Überhöhte Brautpreise sind nach der Meinung der Religionsoberhäupter, dem weltlichen Oberhaupt aller Êzîden Mir Tahsin Beg und dem religiösen und geistlichen Oberhaupt Bavê Şêx oder Şêxê Mergehê strengstens verboten. Beide bezeichneten derartige Praktiken als eine “schwere Sünde” und haben dies mehrfach laut betont. „Die Eltern, die ihre Tochter nur Geldes wegen verheiraten lassen, sind unehrenhaft (so Mîrê Şêxa Mîr Tahsin Beg), weil sie ihre Kinder wie Haustiere verkaufen. In solchen Fällen dürfen diese Eltern das Mädchen, das sie regelrecht verkauft haben, nicht mehr als ihre Tochter nennen. Solche Eltern handeln nicht nach unserer Religion und deshalb schließen wir sie auch nicht in unseren Gebeten ein.“

Next (Necht) war ursprünglich eine kleine Zuwendung an die Muter der Braut gewesen. Es war ein kleiner Preis für die Muttermilch. Die Summe durfte sehr gering sein, so dass jeder in der Lage sein sollte es zu bezahlen. Aber die ständige Armut der Eltern hat dazu geführt, dass sie später um diesen Preis immer wieder gefeilscht haben, um damit ihre Armut zu dämmen oder um (immer häufiger) ihre Steuerschulden an den Staat zu begleichen. Die Priester haben es manchmal auch geduldet aus solchen Gründen, die ihnen bekannt waren. Das führte dazu, dass es zur Gewohnheit wurde und die Summen immer höher stiegen, bis keiner bzw. nur wenige Reiche in der Lage waren es zu bezahlen.

Die religiösen Führer haben immer wieder versucht einen Riegel vor diese „Unsitte“ zu schieben in dem sie versucht haben alle paar Jahre die Höhe des zu bezahlenden Preises für die Muttermilch, wie es genant wird, auf einen geringen einheitlichen Betrag festzulegen, der von allen Eltern bezahlt werden konnte, und schickten gleich Boten zu alle Êzîden, damit sie sich einheitlich daran halten. Aber kaum waren die Boten wieder zurück, wurde schon diese Regel gebrochen und die Summen nach oben getrieben. Da sich niemand mehr daran gehalten hatte, ist es fast außer Kontrolle geraten. Ein weiterer Grund dafür dürfte auch sein, dass die Êzîden bedingt durch die staatliche Trennung voneinander nach dem Zerfall des osmanischen Reiches gezwungenermaßen mit unterschiedlich starken Währungen zu tun hatten. Zum Beispiel das türkische Geld ist längst nicht so stabil wie das irakische, syrische und iranische. Dadurch bedingt war es unmöglich, eine für alle akzeptable Summe für alle Êzîden in allen Ländern zu vereinbaren. Auf dem ersten Weltkongress der Êzîden (Ende Februar 2000 in Hannover) und auf allen anderen darauf folgenden Versammlungen, die in verschiedenen deutschen Städten z.B. in Celle, in Oldenburg und Bielefeld stattfanden, war dies eines der Hauptthemen und auch hier ist es von den Vertretern des „geistlichen Parlaments“ der Êzîden, wiederholt gesagt worden, dass es verboten ist hohe Gelder für die Braut zu verlangen und auch zu nehmen.

Das weltliche Oberhaupt, Mir Tahsin Beg, - es ist auch seine Aufgabe solche Entscheidungen zu treffen - hat gesagt, dass Next verboten ist und als Höhe des Preises für die Muttermilch könne er eine Summe in der Hohe von maximal 5.000 DM tolerieren und darüber hinaus sei kein Pfennig erlaubt, weil es eine große Sünde ist. Wie so oft haben sich die Eltern auch diesmal (bis dato) daran nicht gehalten. Ein Hindernis hierfür ist unter anderem auch, dass viele Eltern, meist die, die früher in der Türkei gelebt haben, bereits hohe Summen für ihre Schwiegertöchter bezahlt haben und deshalb nicht bereit sind für ihre Töchter darauf zu verzichten.

Die Vergangenheit kann man nicht mehr rückgängig machen. Deshalb darf auch die Zukunft davon nicht abhängig gemacht werden. So lange die Vergangenheit und die bereits begangene Fehler, die Grundlage für die Zukunft sind und man deren Rückabwicklung zur Voraussetzung dafür macht, bevor man bereit ist selber keine Fehler mehr zu begehen, dann darf man sich auch nicht ärgern, wenn das ganze Leben versaut ist. Daran ist man selber schuld.

 

 
 

Zurück    *    Home   *   Weiter

 
Top
© Niviskar:  Ferhun Kurt 

 

Die chronologische Geschichte einer leiderprobten, kleinen Religionsgemeinschaft

 

 

 


Einfuehrung des Autors


Einleitung


Kapitel Eins


Kapitel Zwei


Kapitel Drei


Kapitel Vier


Anhang