Kapitel Eins


 

 

Das Problem mir der Identität


 

Das Wort “Volk“ oder “Volkszugehörigkeit“  wird gebraucht um eine Gruppe von Menschen, die entweder die gleiche Sprache sprechen, aus dem selben Land (Staat) stammen oder in dem selben Land leben bzw. gelebt haben oder auch zusammen zu einer Religionsgemeinschaft gehören.

Eine Sprache, die Herkunft oder Religion alleine kann und muss nicht unbedingt genügen um einen Menschen, oder auch ein Volk nach seinem Charakter und seine kulturelle Gewohnheiten zu beurteilen. Auch, wenn die Religion die Menschen, seit mehrere Jahrtausende stark beeinflusst habe bzw. die kulturelle Richtung bestimmt, vorgegeben und geprägt hat, kann man dennoch nicht sagen, dass alle Anhänger einer Religion die gleiche Kultur besitzen bzw. besitzen müssen. Nicht alle Christen sind gleich, das gilt auch für die Moslems etc.. Zum Beispiel: Deutscher wird jemand genannt, der in Deutschland lebt und auch als Muttersprache deutsch spricht, aber ein Schweizer bzw. Ostereicher der ebenfalls deutsch als Muttersprache spricht, wird nicht Deutscher, sondern Ostereicher bzw. Schweizer genannt. Ein Jude ist überall auf der Welt ein Jude. Ein Moslem wird wiederum nach seiner Sprache oder Herkunftsland bezeichnet. Einen Moslem aus der Türkei kann man nicht unbedingt Araber nennen und sie deshalb mit gleichen Maß messen, weil er Moslem ist, sondern er wird nach seiner Muttersprache benannt, so zugeordnet, damit man sich ein Bild von ihnen machen kann.

Die Êzîdî haben ein großes Problem, was das Thema Identität bzw. Volkszugehörigkeit betrifft. Sie gehören, ethnologisch gesehen aufgrund der gemeinsamen Sprache, zu dem kurdischen Volk, leben in verschiedenen Ländern, haben eine andere Religion als die der Kurden, die mehrheitlich Moslems sind und die kurdische Identität verkörpern. Auch wenn die letzteren früher ebenfalls Êzîdî waren, so ist der Einfluss durch den Islam auf ihre Kultur nicht ohne Folgen geblieben. Daher haben die moslemischen Kurden und die Êzîdî nicht unbedingt die gleiche Kultur. Das fängt mit religiösen Ritten an. z. B.: wie der Heirat,  Begräbnis der Toten u. v. m.

  Die Êzîdî gehören zu dem kurdischen Volk, weil sie die gleiche Sprache und zwar den kurdischen Dialekt „Kurmancî“ (Kurmandschi) sprechen. Sie verstehen sich als Urahnen aller Kurden. Das wird auch von den mehrheitlich moslemischen Kurden (sunnitischer Glaubensrichtung) nicht dementiert, sondern ebenfalls bestätigt.

Der Kultur und dem Charakter der Êzîdî nach zu urteilen kann diese These nur bestätigt werden. Denn die Êzîdî gelten als die einzige Gruppe unter den Kurden, die sich gezwungenermaßen über Jahrhunderte hinweg von den übrigen Volker und Religionen aussondiert haben und so ihre ursprüngliche Kultur, Mentalität und Sitten bis zum heutigen Tag bewahren könnten. Diese Praxis hat sich ab den 60er Jahren grundlegend verändert. Sie fingen zum ersten Mal an, mit der Außenwelt in Kontakt zuträten. Zunächst dadurch, dass einige von ihnen als „Gastarbeiter“ in die Bundesrepublik Deutschland kamen, um hier zu arbeiten. In den siebziger Jahren kamen sie nicht mehr als Gastarbeiter, sondern als Flüchtlinge. In Europa weiß kaum jemand über die Êzîdî Bescheid, und wenn jemand etwas weiß, dann höchstwahrscheinlich aus den Romanen von Karl May, oder hat er oder sie aus humanitären bzw. beruflichen Gründen mit ihnen zu tun gehabt. Dagegen weiß aber eine große Mehrheit wer Kurden sind. Wenn die Êzîdî danach gefragt werden sagen die meisten von ihnen, dass sie Kurden seien. Das wird vielfach deshalb gesagt, um lange Reden zu umgehen und um nicht lange erklären zu müssen, was Êzîdî ist bzw. bedeutet. Das war in ihrem Herkunftsland egal, denn sie wollten selber nicht immer, dass sie unbedingt erkannt werden. Aber das sieht im Ausland anders aus. Das Wort „Kurde“ ist, politisch gesehen, auch nicht unbedingt positiv behaftet. Die Bevölkerung in Europa, vor allem in Deutschland, ist der Meinung, dass es zwischen Kurden und Türken überhaupt keinen Unterschied gibt. Sie könnten sich nicht vorstellen, dass ein Kurde, der aus der Türkei kommt, z. B. eine andere Sprache spricht als die Türken, und schon gar nicht, dass er eine andere Kultur hat als diese, wie er es behauptet und erst recht nicht, wenn er dazu noch, wie alle Türken, ein Moslem ist. Das wäre bei den Êzîdî anders, denn sie könnten sagen, dass sie nachweislich eine andere Religion haben und deshalb aus ihrem Land fliehen müssten.

Das Bekenntnis zum kurdischen Volk ist für die Êzîdî gleichzeitig ein Bekenntnis zu einem Millionenvolk. Der Nachteil ist aber der, dass sie damit automatisch ihre ezidische Identität gegenüber anderen Religionen vernachlässigen.

Der Islam steht, was das Thema Menschenrechte  im Allgemeinen (z. B. Jihad: „heilige Krieg gegen Ungläubige“ und die Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts (Emanzipation) gegenüber dem dominierenden männlichen Geschlecht, mit dem Menschenrechte in Europa nicht unbedingt im Einklang. Das ist bei den Êzîdî anders und sie wollen nicht damit gemessen sein oder verglichen werden. Das ist aber fast automatisch der Fall, wenn sie sich nur als Kurden bekennen und dabei nicht betonen, dass sie keine Moslems seien, sondern Êzîdî.

Hier ein mögliches Beispiel: Wenn ein Êzîdî aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wird, dann wird er sich nicht mehr Êzîdî nennen, aber Kurden wird er sich weiterhin nennen. Andersrum wird sich ein muslimischer Kurde nie Êzîdî nennen. Also, die Sprache oder Religion alleine gibt nicht die ausreichende Auskunft über die Identität eines Menschen.

Das bereitet besonders der jüngeren Generation von Êzîdî, noch schlimmer in der Diaspora, große Probleme. Auch sie stehen verstärkt unter dem Druck, zwischen unterschiedlichen Kulturen. Auf der einen Seite die eigene, konservative-, traditionelle Kultur der älteren Generation und auf der anderen Seite die Konsumkultur, die durch Ellenbogenstärke geprägt ist. Einerseits dürfen sie ihre Herkunft und das Leiden ihrer Eltern, die wegen ihrer Religion verfolgt wurden und aus ihrer Heimat vertrieben sind, nicht vergessen. Gleichzeitig sollen sie sich in eine Ellenbogen-Gesellschaft integrieren und dabei noch erfolgreich sein. Das alles möglichst ohne ihre Religion, die ihre Eltern unter dem Einsatz ihres Lebens bis heute bewahrt haben, zu vernachlässigen. Das ist eine sehr schwierige Aufgabe, die nicht ohne gemeinsamen Schulterschluss erreicht werden kann. Dafür muss zwischen ihnen alle Einigkeit herrschen. Dies kann nicht erreicht werden, wenn sie ihre sinnlosen inneren Feindseligkeiten nicht beenden, sondern weiterschüren. Diejenigen unter ihnen, die vom Blutvergießen nicht satt werden, müssen begreifen, dass sie mit ihren Feindseligkeiten nicht nur sich und ihre Familienangehörigen (die fast immer ebenfalls als Unschuldige zum Opfer werden) in große Schwierigkeiten bringen, sondern dass sie damit auch die übrigen Êzîdî schaden.

Die Formel hierfür ist ganz einfach: Ohne Einigkeit keine eigene Identität und ohne eigene Identität gibt es keine Zukunft in der Diaspora. Ein anderer sehr wichtiger Grund, der gegen diese Feindseligkeiten spricht ist die Verheiratung der Kinder. Weil die Möglichkeiten einen geeigneten Ehepartner bzw. eine Ehepartnerin zu finden sehr begrenzt sind, müssen die Blutfehden beigelegt werden, damit die Kinder auch in Zukunft zueinander Kontakt pflegen können. In einer Atmosphäre in der Feindschaft und Blutrache herrscht, kann eine dauerhaft gesicherte Zukunft nicht garantiert werden und schön gar nicht in einer Gesellschaft, wie der von Êzîdî, die sowieso wegen ihren strengen Vorschriften, was das Thema Heirat betrifft, sehr eingeschränkt sind. 

Ich könnte mir nichts schlimmeres vorstellen, als wenn die ezidische Eltern zusehen mussten, wie ihre Kinder, eins nach dem anderen, von seinem Glauben abfallen, weil sie für sich keinen geeigneten Partner/ Partnerin für das gemeinsame Leben in der Zukunft finden, weil die, die ihnen gefallen könnten, die Kinder von den Eltern sind mit denen ihre Eltern in Fehde stehen und deshalb nicht heiraten dürfen. Welch ein ehrenhafter Vater bzw. eine ehrenhafte Mutter würde dies, aus sinnlosen und außer Selbstschädigung zu nichts führenden Motiven, zulassen?

Wie man an diesen einfachen Falbeispiel sieht, gibt es keine Gewiner bei interner Feindseligkeiten und Fehden. Am Ende sind alle verlierer.

 

 
 

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© Niviskar:  Ferhun Kurt 

 

Die chronologische Geschichte einer leiderprobten, kleinen Religionsgemeinschaft

 

 

 


Einfuehrung des Autors


Einleitung


Kapitel Eins


Kapitel Zwei


Kapitel Drei


Kapitel Vier


Anhang