Kapitel Drei


 

Die medizinische Versorgung


 

»Dagmar war zumute, als müssen sie ersticken. Sie verließ den überdachten Gang um mehr Luft zu bekommen. Was in aller Welt würde der Khorsabad-­Expedition in nächster Zeit zu stoßen? Während sich draußen vor dem Tor stand, hörte sie plötzlich vom Ruinenfeld her wildes Geschrei. Es mußte etwas geschehen sein.

»Hat der Aufruhr bereits begonnen?« murmelte sie vor sich hin. Eisa stürzte zum Tor hinaus und eilte dem Abhang hinunter. Die bewaffnete Wache machte sich bereit. Dagmar und Sheila liefen bis zum Rande des Abhanges, um zu sehen, was geschehen war. Etwa zehn Leute hatten sich auf einen Fleck zusammengedrängt, aber es ließ sich nicht erkennen was diese Männer taten. Eisa kehrte nach kurzer Zeit zurück.

»Was ist geschehen, Eisa?« fragten Sheila und Dagmar wie aus einem Munde.

Eisa lachte. »Etwas wirklich Lustiges«, antwortete er. »Ein Esel ist in einen der kleinen Schächte gefallen,« »Und was wurde aus ihm? Kam er zu Schaden? « fragte Sheila.

»Nein«, antwortete Eisa. »Es geschah ihm nichts. Es stand nämlich ein Mann unter ihm im Schacht. Als der Esel über ihn fiel, fing er ihn auf, so daß das Tier unverletzt blieb.«

»Geriet der Mann unter den Esel?« fragte Sheila weiter.

»Ja, gewiß«, sagte Eisa vergnügt.

»Aber was wurde aus dem armen Mann«, fragte Sheila, »wurde er verletzt «

Eisa machte ein  verwundertes Gesicht und antwortete nicht sofort.

»Nein«, sagte er endlich zögernd. »Das glaube ich nicht. Übrigens,« fügte er mit einem Achselzucken hinzu, »es war nur ein Yezide!« Darauf ging Eisa zu den Expeditionsgebäuden hinauf.

»Hörtest du, was er sagte?« flüsterte Dagmar fassungslos.

»Ja«, antwortete Sheila. »Er meinte, weil dieser Mann Yezide ist, spiele es keine Rolle, was mit ihm geschehen sei.«

»Diese armen Menschen sind Jahrhunderte hindurch verfolgt und umgebracht worden; ihr Leben ist in den Augen der andern nicht einen Batzen wert.«

»Wir wollen hingehen und untersuchen, ob der Mann Hilfe braucht«, schlug Sheila vor.

Dagmar eilte zur Vorratskammer und holte Watte, Mullbinden und Desinfektionsmittel. Dann klet­terten sie gemeinsam den Abhang hinunter und arbeiteten sich im Lehm stapfend und durch Was­serlacken watend zur Ruinenstadt durch. Dort fragten sie die arabischen Arbeiter nach dem Mann, der im Schacht gestanden hatte, als der Lastesel über ihn stürzte; und bald hatten sie eine Gruppe Arbeiter gefunden, die alle Yeziden waren. Mitten unter ihnen war ein Mann, der seine Kopfbedeckung halb über das Gesicht gezogen hatte. Er hantierte mit einem Spaten, während ihm Blut von der einen Wange herabsickerte. Dagmar ging zu ihm. Der Mann richtete sich auf. Er sah die beiden erstaunt an. Dagmar verstand seine Sprache nicht, und er selbst konnte weder Englisch noch Arabisch. Trotzdem gelang es Dagmar, ihm verständlich zu machen, er soll sich auf einen umgestülpten Korb setzen. Sie deutete auf seine Kopfbedeckung und machte ihm Zeichen, dass er sie abnehmen solle. Der Mann schüttelte wieder den Kopf. Sheila entfernte das Umschlagpapier von dem Wattepaket und zeigte ihm dieses. Er schüttelte wieder den Kopf. Da riß Sheila ein größeres Stück reine, weiße Watte ab und hielt es an eigenen Kopf. Jetzt verstand der Mann, was sie meinte. Er nickte und löste vorsichtig das schmutzige Tuch, das er vermutlich monatelang täglich um seinen Kopf getragen hatte. Unter dem Tuch kam nun eine große Scheuerwunde auf der Stirn zutage, während am oberen Teil der Wange eine offene Wunde klaffte, die heftig blutete. Sie wickelte die weiße Mullbinde um den Kopf und das bärtige Kinn des Mannes. Währenddessen fragte Sheila durch Zeichen, ob er noch irgendwo an Armen oder Beinen verletzt sei. Der Arbeiter schüttelte verneinend den Kopf; er scheint noch einigermaßen gut davongekommen zu seien. Als Dagmar und Sheila mit dem Verband fertig waren, erhob er sich und sagte etwas, das sie sich als Ausdruck seines Dankes deuteten. Sie gaben ihm noch zu verstehen, dass er sich jeden Morgen auf der Expedition einfinden solle, um die Verbände erneuern zu lassen. Er nickte. In Ermangelung eines besseren Ausdrucksmittels nickten Dagmar und Sheila gleichfalls. Dann kehrten sie zur Expedition zurück. Dort begegneten sie Eisa. Sie erzählten ihm, dass sie dem Verletzten einen Verband angelegt hätte. »Weshalb so viel Mühe um einen Yeziden?« meinte Eisa achselzuckend.

»Weil er ein Mensch ist wie Sie und wir«, antwortete Sheila freundlich.

Eisa schnaubte abweisend. Er hegte den tief eingewurzelten Abscheu der Mohamedaner gegen die Yeziden.

(Astrid Estberg; Dagmar im Lande der Yeziden; Stuttgart 1956 )

 

Die medizinische Versorgung im kurdischen Teil der Türkei ist aus heutiger Sicht gesehen im Algemeinen sehr schlecht. Abgesehen davon, war sie für die Êzîdî noch bei weitem schlimmer.

Bis Ende der sechziger Jahre betrug die Sterblichkeit unter den Kindern mindestens 80%. Ich habe darüber mit vielen, älteren Eltern gesprochen und fast alle haben angegeben, dass sie mindestens fünf von ihren Kindern an dem Tod verloren haben. Wenn man die Muttern fragt, wie oft sie schwanger geworden sind, dann hört man nicht selten die Zahlen dreizehnmal und mehr. Die Eltern waren wegen dieser sehr hohen Kindersterblichkeit gezwungen auf jede Art von Verhütungsmitteln zu verzichten. Mindestens 98% von den Kindern sind zu Hause und ohne medizinische Hilfe, nur in Anwesenheit einer älteren Dame aus dem Dorf geboren.

 Um die Lage zubeschreiben, möchte ich dafür zwei Beispiele erwähnen, die die Lage für die Êzîdî sehr überschaubarer machen und jede weitere Erklärung dafür unnötig machen.

Weil die Êzîdî sich nur in akuten Notsituationen im Krankenhaus behandeln ließen gibt es auch wenig hier rüber zu berichten. Aber die wenigen Erlebnisse reichen aus, um sich ein Bild davon zu machen.

Der erste Fall hat eine Alte Frau, Namens Ayşo ya Abdo, erlebt, die 1980 mit dem Enkelkind, das wegen einer Behinderung an den Füssen im städtischen Krankenhaus in Diyarbekir stationiert war, gemacht. Das Kind hatte die Behinderung seit der Geburt, und es war das Erste Kind ihrer Eltern. Die Eltern haben zunächst die medizinische Hilfe bei den Heilpraktikern gesucht. (Diese Hilfe wird, wegen zu hohen Heilkosten bei den niedergelassenen Ärzten und der kompletfehlende Krankenversicherung in den östlichen Regionen der Türkei, sehr häufig und als erstes in Anspruch genommen). Nachdem alle Heilpraktiker und Koranheiler ihre Heilmethoden ausprobiert haben, und keiner von ihnen in der Lage war das Kind zu heilen, haben die Eltern sich doch noch für die schulmedizinische Hilfe entschieden. Obwohl sie keine große Auswahl  hatten, mussten sie zunächst einen Arzt suchen, der für die medizinische Behandlung des Kindes fähig war. Ihnen wurde das städtische Krankenhaus in Diyarbekir empfohlen. Diyarbekir liegt westlich von Midyat und ist etwa zweihundert Kilometer davon entfernt. Also, die verzweifelten Eltern standen damit vor einer schwierigen Frage: Wer würde das Kind dort betreuen? Nach einer langen Überlegung hat sich, die damals 65 jährige Großmuter des Kindes, die Mutter von dem Vater, dazu bereit erklärt. Nun war es noch zu klären, wie eine Êzîdin alleine unter den Moslems leben kann, ohne erkannt und belästigt zu werden. Die Lösung wurde im Dorf bei einer Frau, die ebenfalls einmal vor solch einer Entscheidung gestanden hatte und dafür eine kluge Lösung gefunden hatte, gefunden. Die Frau hatte damals die Idee sich äußerlich wie eine kurdische Muslimin zu kleiden. Sie hat ganz einfach eine bunte Kluft über ihre nach ezidischen Brauch weiße Bekleidung gezogen, und blieb damit auch unerkannt. Sie hatte schließlich mit dieser Verkleidung Erfolg gehabt. Das Gleiche zu tun wäre unter normalen Umständen für eine ältere ezidische Dame undenkbar, aber ihr Fall war nicht normal und verlangte auch deshalb von ihr ein großes Opfer. Nachdem sie keine andere Tarnungsmöglichkeit fand, hat sie sich die Kluft von der Frau ausgeliehen und damit mit der Enkeltochter mitgefahren.

Sie hat unter diesen Umständen zwei Monate im Krankenhaus verbracht. Sie hat danach sehr oft über ihre Erlebnisse gesprochen. Zum Beispiel, wie sie von anderen Moslems aufgefordert wurde mit ihnen zu den täglichen rituellen Gebeten der Moslems zu gehen. Sie hat sich erst mal mit Entschuldigungen wie: „ich bin heute krank und kann deshalb nicht betten“ oder „ich mochte heute alleine Betten“ ausgeredet. Nachdem sie mehrmals dazu aufgefordert wurde und sie sich immer wieder neue Ausreden ausdenken musste und womöglich, weil auch die Muslimen langsam an ihren täglichen Ausreden zweifelten, wurden sie mit ihrer Aufforderung aufdringlicher. Einmal wurde sie gefragt, woher sie kommt.

»Ich komme aus der Gegen von Şirnex.« Antwortete sie.

Also, aus einem Gebiet in dem keine Êzîdî wohnen. Sie wollte damit jeden Verdacht, dass sie keine Muslimin ist, meiden. Deshalb war das eine sehr kluge Antwort.

»Ach deshalb kommst du nicht mit uns zum Gebet? Ich habe es gehört, ihr geht nicht mit den Anderen in die Moschee zum betten, sondern ihr bettet im Freien, weil ihr Koçer(Nomaden) seid?«

fragte eine von den Anderen.

»Ja. Du hast recht, deshalb komme ich nicht mit euch.« antworte sie prompt.

 Das kam, wie durch ein Wunder. Man hat sie nach dieser Antwort in Ruhe gelassen.

Diese Aktion hat der Familie viel Geld gekostet und das Mädchen wurde kein bisschen gesunder. Ihre Füße sind operiert worden und außer viele schmerzhafte Erfahrungen für das Mädchen und bittere und kostspielige Erfahrungen für die Familie haben alle nichts gewonnen.

Das Kind ist erst in Deutschland behandelt worden und die Behandlung war auch gleich erfolgreich. Nur noch die Spüren von den ersten Behandlungen in der Türkei sind heute noch sichtbar.

 

Der zweite Fall


 

Der zweite Fall hat mein Onkel Xellîl ê Qubêt in demselben Krankenhaus gemacht. Sein Sohn Abdulkerim ist wegen Blinddarmentzündung erstenmal in Midyat operiert worden. Dabei hat der Arzt, der ihn Operiert hat einen „Kunstfehler“ begangen. Den Angaben nach hat der operierende Arzt, um an den Blinddarm zu kommen, die anderen Därme zu Seite geschoben und am Ende der Operation sie nicht wieder zu Recht gerückt. Wegen dieses Fehlers ist er in eine lebensbedrohliche Lage gekommen. Er müsste schnellstens wieder operiert werden. Mein Onkel hat von Verwandten dafür Geld geliehen und ist mit ihm nach Diyarbakir gefahren, um ihn dort noch einmal operieren zu lassen. Der Junge wurde operiert und Mein Onkel hat sich ein Zimmer in einem Hotel in der Stadt gemietet. Er ging tagsüber zu seinem kranken Sohn und wenn die Besucherzeiten in dem Krankenhaus zu Ende war, kam er in das Hotel. Er hielt sich dort gewöhnlich beim Teetrinken draußen im Hotelgarten auf. Bis er einmal von den übrigen Hotelgästen gefragt wurde, ob er mit ihnen in die Moschee zum beten gehen möchte. Er hat die Frage mit „Nein“ geantwortet. Als sie nach der Grund fragten gab er an, dass er nicht Moslem, sondern Êzîdî sei.

Es hat nicht sehr lange gedauert bis sich die Nachricht, „ein Ungläubiger halte sich im Hotel auf“ überall herum gesprochen hatte. Ein „Gottloser“ unter den „wahren Gläubigen“ könnte niemand akzeptieren. Es hat nicht lange gedauert, bis er beschimpft und bedroht worden ist. Er dürfte von nun an sich nicht mehr draußen im Garten aufhalten. Aus Angst, man wurde ihm vor der Haupteingang gewalttätig angreifen, hat er einen Hintergangstür, die gewöhnlich immer auf war zum Ein- und Ausgehen benutzt. Wenn er in seinem Hotelzimmer war, hat er vorsichtshalber immer die Tür seines Zimmers von innen abgeschlossen.

Eines Abends als er in seinem Zimmer war, kam eine mit Schlagstocken und Messern bewaffnete Männergruppe und hat ihn aufgefordert die Tür zuöffnen. Das hat er natürlich nicht gemacht. Die Männer haben versucht die Tür von Außen zu öffnen, dies ist ihnen nicht gelungen, dann entfernten sie sich wieder. Am nächsten Tag ist er an der Bushaltestelle überfallen worden und ein Teil des Geldes, das er für seinen Sohn geliehen hatte, ist geraubt worden. Ihm blieb nur die Wahl das Hotel zu wechseln. Das tat er und blieb diesmal, wie durch ein Wunder

 

 
 

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© Niviskar:  Ferhun Kurt 

 

Die chronologische Geschichte einer leiderprobten, kleinen Religionsgemeinschaft

 

 

 


Einfuehrung des Autors


Einleitung


Kapitel Eins


Kapitel Zwei


Kapitel Drei


Kapitel Vier


Anhang