Wer bin Ich?


Ich bin in einem Dorf geboren und groß geworden, in dem weder die ethnische Abstammung noch die Sprache geschweige denn die Religion für die Bewohner eine Rolle für das Zusammenleben gespielt hat.

 Alle sprachen die gleiche Sprache, alle hatten die gleiche Hautfarbe, alle atmeten dieselbe Luft und alle glaubten an denselben Gott. Alle hatten dieselben Nöte und machten sich gemeinsam Gedanken über ihre Zukunft. Alle suchten gemeinsam nach Wegen, um ihrer Probleme Herr zu werden.

Ich habe dort mein Kindheit und meine Jugend verbracht. Ich war als Kind unbekümmert, weil es selbstverständlich war, dass jeder im Dorf mein Aufpasser war und mich davon abgehalten hätte, wenn ich etwas machen wollte, was nicht in Ordnung war. Ich musste mich vor niemandem aus dem Dorf fürchten und niemand musste mich vor anderen Mitbewohnern des Dorfes beschützen.

Ich fühlte mich nirgends so sicher, wie in dem Dorf. So ein sicheres Gefühlt hat man sonst nur, wenn man sich in der Obhut eigener Eltern befindet.

Jeder kannte jeden und jeder respektierte jeden, so wie er von dem Schöpfer geschaffen worden ist. Niemand musste sich wegen seines Aussehens oder seines Charakters bei niemandem rechtfertigen.

Ich konnte mein Idol, meine Vorbilder selber bestimmen. Ich konnte mich an jeden im Dorf wenden, wenn mich eine Frage bedrückte oder wenn ich ein Problem zu bewältigen hatte.

Jeder war mein Lehrmeister in jeder Hinsicht.

Jeder wusste genau, welche Pflichten und auch welche Rechte er gegenüber anderen hatte. Dazu brauchte man keine Polizisten, die für Recht und Ordnung sorgen mussten. Man brauchte sich nur an die vor Jahrhunderten aufgestellten Ordnungen halten und genoss dabei ein beinahe unbeschwertes Leben.

Alle glaubten an denselben Gott und träumten von demselben Paradies nach dem Tode.

Jeder wusste ganz genau wann er fasten sollte, welches Fest er feiern musste und welche Gerichte dafür zubereitet werden sollten. Niemand musste deswegen in eine Kirche oder eine Moschee gehen um bei den Priestern danach zu fragen. Jeder im Dorf war ein Ratgeber in solchen Dingen. Niemand musste alles wissen und keiner Angst haben etwas Falsches zu machen. Man brauchte sich nur an die Übrigen zu halten und genau das tun, was die anderen Dorfbewohner und Nachbarn taten.

Niemand musste sich schämen, wenn er aus wirtschaftlichen Gründen nicht soviel auftischen konnte wie sein Nachbar. Alle Besitztümer waren die Gaben des einzigen allmächtigen Gottes, und wenn jemand sehr knapp leben musste, so wurde es als den Willen Gottes akzeptiert und respektiert. Wer hätte den Mut gehabt sich über Gottes Werk und seinen Willen zu beschweren oder gar lustig zu machen?

Es gab keine Bücher, in denen niedergeschrieben war, wie man zu leben hat, wie und was man essen soll und wie oft und auf welche Art und Weise zu Gott und bestimmten Propheten gebeten werden sollte.

Jeder konnte selber bestimmen wie nah er / sie seinem Schöpfer stehen will und mit wie viel Eifer er / sie dies zum Ausdruck bringen möchte. Meist reichte nur das Lippenbekenntnis ein Êzîde zu sein. Darüber, ob jemand ein guter oder schlechter Êzîde ist, kann  und darf nur Gott entscheiden. Es gibt zahlreiche ungeschriebene Vorschriften, die mündlich von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. Wen jemand sich nicht öffentlich gegen diese Vorschriften erklärt und sie absichtlich missachtet, wie sollte jemand anderer außer Gott darüber urteilen können, wie gut ein Anderer diese im Herzen schätzt und danach zu leben anstrebt?

Die Lebensart, die ich in knapper Form hier beschrieben habe, galt leider nur innerhalb des Dorfes und sobald man sich in andere Ortschaften begab, galten andere Sitten religiöse Bräuche und Gesetze. Als Êzîde war man gezwungen sich anzupassen, um nicht die andere Medaillenseite des Lebens kennen zu lernen. Als Êzîde musste man sich ganz vorsichtig und unauffällig verhalten, wenn man sich unter der dortigen nicht êzîdischer Bevölkerung begab.

In dieser Atmosphäre wuchs ich auf und mit mir mein Bewusstsein als ein Êzîde, bis ich 17 Jahre alt wurde. In dieser Zeitspanne brannten sich viele Erinnerungen und ein beachtliches Fachwissen über die êzîdische Religion und deren Weltanschauung in meinem Gedächtnis ein. Aber dann war ich gezwungen mit meinen Geschwistern den gewohnten Lebensraum und die Lebensart zu verlassen, um woanders auf dieser Welt einen Neuanfang zu versuchen. Bis dahin kannte ich nur das Leben in dem bereits beschriebenen Dorf und der Rest der Welt war für mich völlig unbekannt und utopisch zugleich.

Als ich mich zur Auswanderung entschieden hatte, verspürte ich seltsamerweise nichts weiter als Freude. Es schien mir, als es sei das Normalste von der Welt alles aufzugeben, was meine Eltern mit aller Not und Mühe erwirtschaftet hatten, um uns ein besseres Leben im Alter zu garantieren. Sie lebten nur dafür und dachten an nichts anderes außer, wie sie uns das Leben in dem Dorf leichter machen könnten, damit wir ein unbeschwerlicheres Leben führen können als sie selber es hatten. Sie sind ebenfalls in dem Dorf geboren und kannten nichts anderes. Und das, was sie kannten, wollten sie uns beibringen und uns mit bestem Wissen und Gewissen auf das Leben vorbereiten, das sie kannten und erfolgreich bewältigten. Sie kauften Land, auf dem wir Getreide säen und ernten könnten. Sie bauten Häuser, in denen wir wohnen und eine eigene Familie gründen sollten und sie huben eigenhändig Zisternen aus, aus dem sprichwörtlich steinharten Boden, damit sich Regenwasser in ihnen sammeln konnte, von dem wir und die Haustiere unseren Durst loschen und mit dem wir uns und unsere Bekleidung waschen sollten und konnten.

Wer nicht genug hatte, legte noch mehr Weingärten an. Mir kamen keine Skrupel, als ich alldem den Rücken kehren wollte und all das, was meine Vorfahren unter schwierigsten Bedingungen auch für mich erwirtschaftet hatten, dem Verfall und fremden Menschen zu überlassen. Ich hatte keinerlei Angstgefühle vor den Gefahren, die mir in der weiten Welt auflauerten, geschweige denn Schuldgefühle, als ich das Dorf hinter mir ließ und mich aufmachte ein besseres Leben zu suchen. Ich ließ dabei alle Vorhaltungen außer Acht, die meine mit Sorgen erfüllten nahen Verwandten mir vorbrachten um mich von meinem Vorhaben abzubringen. Auch die zahlreichen Ratschläge, die man mir auf den Weg gab, waren für mich übertriebene unbegründete Sorgen der Erwachsenen.

Ich hörte manchmal zufällig wie manche Erwachsene sich über uns unterhielten und dabei ihre Sorgen zum Ausdruck brachten. Manche sagten man dürfe nicht zulassen, dass ich meine kleineren Geschwister mitnehme. Sie begründeten es damit, dass wir verloren gehen würden und wenn ich verloren gehen sollte, dann sollten die Kleinen wenigstens erhalten bleiben. Ich hielt all diese Sorgen für unbegründet und wertete sie vielmehr als Angriff auf meine eigene Persönlichkeit und dachte, dass sie kein Recht haben, so über mein Selbstvertrauen, das nur ich zu mir hatte, zu urteilen. Nichts und niemand waren in der Lage mich von meinem Vorhaben abzubringen.

Schließlich habe ich mich durchgesetzt und mich auf den Weg gemacht mit der Hoffnung nie wieder in das Dorf zurückkehren zu müssen.

Ich habe innig zu Gott und Taus i Melek gebetet mir beizustehen und mich und meine Brüder auf unserem langen Weg zu begleiten und zu beschützen. Während ich im Stillen betete, trauerten meine Verwandten mit lauter Stimme. Ich habe zu Şêşims gebetet und dabei versprochen einen Hammel zu schlachten und sein Fleisch unter armen Menschen zu verteilen, wenn wir unsere Reise ohne ein bekanntes Ziel heil überstehen sollten.

Ich habe alles im Dorf zurückgelassen, wovon ich bis dahin geträumt hatte, und was ich im Leben erreichen bzw. tun wollte. Nur eins konnte ich nicht da lassen: Meine Gedanken und Erinnerungen an das Erlebte und Erlernte und die Gewissheit, dass ich niemals meine Religion gegen eine andere austauschen werde. Das waren die wertvollsten Güter neben dem Lebenshauch, die ich aus dem Dorf mit mir nahm und die ich für immer behalten will bzw. anstrebe. Diese Erinnerungen sind zum größten Teil in mir genauso wach und ständig anwesend, wie zu der Zeit, als ich sie aufgenommen habe.

Nun blicke ich nach 18 Jahren zurück. Ich habe das Leben gefunden, das ich suchte und bin selber mittlerweile ein sechsfacher besorgter Vater.

Ich habe von meinen Eltern, Verwandten und Nachbarn viel gelernt. Das, was ich von ihnen gelernt habe, ist mir bis heute als Wegweiser geblieben. Sie haben mir alles erzählt, wovon sie selber ihre Weisheiten schöpften. Sie haben mir beigebracht, wie ich mich vor wem schützen soll. Sie haben mir Türen zu ihren Bibliotheken geöffnet, die in ihrem Kopf eingerichtet waren, damit ich daraus lerne und erkenne, wie man sich selber das Leben leichter und auch schwerer machen kann. Ihre Welt war die Welt des Erzählens und meine heutige Welt ist die Welt des Lesens geworden.

Sie erzählten mir stets die Wahrheit und ich brauchte nur ein guter Zuhörer zu sein, um zu begreifen, was sie mir sagen wollten und was sie mir beizubringen gedachten.

Heute habe ich Angst nicht die Gabe geerbt zu haben meine Kinder so zu erziehen und ihnen die Dinge zu vermitteln, wie ich sie für richtig und wichtig halte. Meine heutige Welt ist eine andere. Meine heutige Welt ist keine Welt des Vertrauens, sondern die des Misstrauens. Meine heutige Welt ist nicht die Welt der Erzähler und Zuhörer, sondern die Welt der Schreiber und Leser. Niemand hort zu und glaubt mehr dem gesprochenen Wort. Wenn du jemandem etwas sagen willst, musst du deine eigenen Worte erst schreiben, um sie dann vorzulesen zu dürfen.

Ich lebe nicht mehr in einem Dorf, in dem jeder jeden kannte und vertraute, sondern in einer fremden Welt unter fremden mir unbekannten Nachbarn. Niemand bittet niemanden mehr um Ratschläge für das Leben und niemand erzählt wie selbstverständlich und in aller Öffentlichkeit, was er erlebt hat, was ihn bedrückt und um welche Erkenntnisse er dadurch reicher geworden ist. Denn er weiß, dass niemand ihm zuhören wird. Wenn jemand etwas mitteilen will, muss er es aufschreiben. Das schlimmste ist, er sieht und hört selten, wie die anderen darauf reagieren, bzw. wenn dieser ein Ratschlag braucht, ihm sagen würden.

Genau dieses Problem habe ich. Ich habe Angst, dass ich das, was ich weiß, mit ins Grab nehmen werde, weil ich nicht mehr die Zuhörer habe, denen ich alles erzählen kann. Ich habe Angst, dass meine Kenntnisse niemanden auf dieser Welt interessieren.

Viel ist über uns Êzîden in die Welt geschrieen worden. Wir haben dazu geschwiegen. Viel ist über uns geschrieben worden, meist nur das Negativste. Wir haben kein Blatt in die Hand genommen. Wir hatten es nicht nötig. Die Kinder konnten nicht hören, was die Anderen über uns erzählten, nicht lesen, was die Anderen über uns schrieben und nicht sehen, was die Anderen über uns im Fernsehen zeigten, deshalb hielten sie noch zu ihren Eltern und mit ihnen schien unsere Zukunft gesichert. Heute sieht die Lage anders aus. Sie hören, sehen und lesen was die Anderen über uns sagen, schreiben und was ihre Fernsehsender zeigen.

Ich stehe ohnmächtig da, alleine mit meiner wahren Stimme gegen Millionen Lügen anderer. Ich bin gewohnt zu erzählen und nicht zu schreiben und meine Kinder haben genau das Gegenteil lieber. Ich sage die Wahrheit durch meine Lippen und meine Kinder wollen mir nicht zuhören, sondern lieber die Wahrheit in den Händen halten oder in einem Wandregal verstauben lassen, anstatt sie in ihrer Gedächtnisbibliothek zu bewahren, wo sie überall jederzeit nachschlagen können.

Ich höre immer wieder, wie die Jugendlichen behaupten, sie wüssten nicht viel über sich selbst und die Religion ihrer Vorfahren. Und es gibt immer noch genug Menschen, die behaupten, die Êzîden praktizierten eine geheime Religion. Deshalb habe ich mich dazu entschieden diese Seite aufzubauen. Mit Hilfe dieser Seite möchte ich den Beweis erbringen, dass jeder, der ernsthaft daran interessiert ist, alles über die Êzîden und deren Religionsauffassung erfahren kann.

Auf die Frage, warum diese Homepage Denwan heißt, sage ich nur, weil das Dorf so heißt, in dem ich geboren und aufgewachsen bin. Das Dorf, das für mich die Wiege und Lehranstalt war. Also mit anderen Worten, die Quelle, von der ich mein Grundwissen erlernt habe, hieß Denwan, und deshalb möchte ich sie auch euch als Quelle zugänglich machen.

Es hat mich lange Zeit interessiert, warum das Dorf Denwan genant wurde und was für eine Bedeutung der Name hat. Wie auf anderen Fragen auch, so auf diese Frage sind mir die Älteren eine Antwort nicht schuldig geblieben. Ein Mann aus dem Nachbardorf Kefnas, der über 100 Jahre alt war, hat mich darüber aufgeklärt: Jeder, der sich in Denwan niederließ, wurde wie durch ein unerklärliches Wunder reicher. Deshalb sagte man, dass das Dorf ihnen die Reichtümer gibt und sie auch vermehrt.

Also, das Dorf wurde Denwan genant. Das ist die Ableitung von dem kurdischem "de" = gibt oder "Din" = geben und "wan" = ihnen. Mit anderen Worten: das Dorf das seine Bewohner reich macht.

 Das ist das Dorf, in dem ich geboren wurde und bis zu meinem 17. Lebensjahr gelebt habe. Hier liegen meine Wurzeln und ich wurde hier auf das Leben vorbereitet. Das war also meine Wiege und Lehranstalt.

Heute lebt niemand mehr dort. Das Dorf ist vollständig verlassen und dem Verfall überlassen. Was einst viele Menschen eigenhändig und mühselig aufgebaut haben, ist ein Geisterort geworden. Das müsste uns Menschen als Mahnmal dienen, dass nichts ewig ist und niemand für Ewig planen sollte und nichts für Ewig errichten kann.  

Was aber stets bleibt ist der Glaube an eine bessere Zukunft, sowohl für mich, als auch für meine Kinder und deren Kinder. Dort haben der Glaube und die Gemeinschaft uns stark gemacht und diesen Weg müssen wir wieder einschlagen, denn ansonsten kann es uns wie meinem Dorf ergehen.

Wir müssen uns entscheiden, ob wir uns bereichern wollen, mithilfe unseres Glaubens und unserer Gemeinschaft oder ruinieren lassen wollen, indem andere die Macht über uns ergreifen. Jeder Mensch und jede Gesellschaft versucht die andere auf einer bestimmten Art und Weise zu unterdrücken bzw. überbieten, um selbst zu überleben. Dabei können nur die Stärksten Kulturen und Religion gewinnen. Ich habe den Sieg und die Niederlage schon erlebt und möchte endgültig den Sieg und den Reichtum wieder erlangen. Allerdings heißt für mich Reichtum nicht, dass ich materiell bereichert werden möchte, sondern wieder reicher an sozialer Nähe werde. Dabei ist mein Glaube ein ständiger Wegbegleiter, der mir Trost und Hilfe schenkt.


Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seite dient exklusiv Ihrer persönlichen Information. Weiterverbreitung oder Verwendung jeglicher Art sind ohne besondere Genehmigung des Autors: Ferhun Kurt nicht zulässig. Insbesondere dürfen Nachdruck, Aufnahme in Online-Dienste und Internetvervielfältigungen auf Datenträger wie CD-ROM, DVD-ROM etc. nur nach vorheriger schriftlicher Zustimmung des Autors: Ferhun Kurt erfolgen. Bei Nichtachtung behält sich der Autor vor, rechtliche Schritte dagegen anzugehen.

   
Top
    © Niviskar:  Ferhun Kurt